Alter Ego

Firma:
Activision
Jahr:
1986
System:
C64
Genre:
Rollenspiel
Tags:
Lebenssimulation / Einzigartig / Textbasiert
Sprache:
Englisch
Mittlere Wertung:
4/5

Meinung damals

Alter Ego ist das ungewöhnlichste Spiel, das 1986 erschienen ist, sofern man überhaupt noch Spiel dazu sagen darf. Ich würde es eher als Unterhaltungs-Software mit Tiefgang bezeichnen. […] Alter Ego gehört eigentlich in jede Software-Sammlung, die einen Überblick über das gesamte Leistungsspektrum der Computer-Spiele geben will.

Boris Schneider, Happy Computer Sonderheft 11 

Bericht von Mr Creosote (17.02.2024) – C64

Was macht ein Rollenspiel aus? Wer zuerst an Charakterwerte und -entwicklung gedacht hat, hat damit Alter Ego beschrieben. Doch wer es im spielmechanischen Sinne interpretiert hat, bekommt durch diese Zuschreibung einen völlig falschen Eindruck. Hier gibt es keine Elfen und Zwerge, keine Laserwaffen, keine zu bekämpfenden Monsterhorden, es müssen keine magischen Ringe gefunden werden. Man hat nur ein normales Leben zu leben. Öde? Oder ist das nicht vielmehr das eine noch ungelöste Rätsel der Menschheit?

Das Spiel scheint dabei die Frage zu stellen: Was prägt einen Menschen? Wieso verhält er sich genau so und nicht anders? Wie entwickeln sich individuelle Persönlichkeiten? Wann verhält man sich „rational“, d.h. trifft Entscheidungen durch Abwägung der Faktoren, und wann emotional? Gibt es eine solche Unterscheidung überhaupt? Alter Ego folgt dem Modell, dem Spielcharakter initial gewisse Persönlichkeitswerte mitzugeben und diese dann durch Entscheidungen im Leben weiter zu schärfen und zu formen.

Die radikalste Designentscheidung ist jedoch gar nicht die Ambition, dies simulieren zu wollen, sondern vielmehr all das, was weggelassen wurde. Insbesondere interessiert sich das Spiel nicht weiter dafür, ob man Karriere macht, überhaupt arbeitet, berühmt wird usw. Man entfernt sich also weit von den üblichen Wunsch-Fantasien, die in Spielen der Zeit vorherrschten. Mutig! Es ist also keinesfalls ein Vorläufer zur Yuppie-Simulation Jones in the Fast Lane.

Ein gewisser Rahmen dieses simulierten Lebens ist schlicht und einfach vorgegeben. Man erlebt typische Szenarien der sozialen Mittelschicht in einer Nordamerikanischen Vorstadt. Als in Westeuropa sozialisierter Mensch ist dies nah genug an der eigenen Lebenswirklichkeit. Andere Kulturen oder soziale Einordnungen sind nicht berücksichtigt. Was Sinn ergibt, denn sonst wäre die Komplexität durch die Decke gegangen.

Auf Basis der anglo-amerikanischen Tradition der sieben Lebensphasen wirft einen das Spiel in typische Situationen und fragt jeweils den Spieler, Entscheidungen zu treffen. Dadurch werden wiederum die Charakterwerte wie „Intelligenz“ oder „Fitness“ genährt. Der Spieler kann selbst Prioritäten setzen, was die Wahl der Lebensbereiche, an denen man sich abarbeiten will, angeht. So kann man durchaus sein gesamtes Dasein in der Kategorie „Liebesleben“ verbringen. Eine für Karriere und Arbeit gibt es auch, doch auch dort dreht es sich letztlich um soziale Interaktionen.

Hinter den Kulissen findet keine großartige Simulation statt. Vielmehr kann man das Spiel als besseres Ästelschema mit ein paar Querverbindungen bezeichnen. Interessant wird es immer dann, wenn das aktuelle Szenario irgendwie von vorher getroffenen Entscheidungen beeinflusst wird. Soll heißen, wenn die gleichen Entscheidungen der momentanen Situation aufgrund der Historie nun zu anderen Ergebnissen führen. Das Spiel scheint in sich konsistente Lebensführung belohnen zu wollen, während eine sprunghafte Persönlichkeit immer wieder in Probleme gerät.

All das zeigt implizit eine Menge Vorurteile und einen recht konservativen Blick auf die Gesellschaft und unser Leben darin. Dies gilt bereits für die Wahl der Szenarien, die man überhaupt beschrieben bekommt, dann natürlich für die Wahlmöglichkeiten und besonders augenscheinlich wird es schließlich, wenn der Autor die Spieler für „schlechte“ Entscheidungen zu tadeln beginnt. Letzteres mag stellenweise schon sauer aufstoßen, insbesondere im Erwachsenenalter, wenn der Zeigefinger etwas zu hoch erhoben wird.

Am Anfang des Spiels wirkt die gleiche Eigenart andererseits stark. Die Spieler sind als Erwachsene anzunehmen und so ist kaum zu vermeiden, dass ihr Echtwelterfahrungsschatz in die Entscheidungen im Spiel einfließen – selbst in den frühestens Lebensphasen. Wenn ein neugeborenes Baby sich von riesigen Gesichtern, die seltsame Geräusche machen, bedroht fühlt, mag man als Spieler entscheiden, ruhig zu bleiben. Doch dies ist natürlich nicht mit dem Erfahrungsschatz und den intuitiven Emotionen eines Babys vereinbar. Das Spiel kommentiert dies auf lockere Weise und erinnert dadurch organisch daran, dass das Spiel einem mehr geben könnte, wenn man spontaner entscheidet statt zu viel nachzudenken.

Hält all dies einer wissenschaftlichen Betrachtung stand? Sicher nicht. Dafür sind zu viele Annahmen fest verdrahtet. Bezüglich des Spielumfangs, bezüglich des Rahmens des Lebens, das da erzählt wird, bezüglich der Gesellschaft und derer Erwartungen. Der Autor war ein Mann und das zeigt sich auch in entsprechenden Perspektiven. Eine eigene Version für Frauen wurde zwar veröffentlicht, doch es ist deutlich, dass die dort erzählten Situationen von den originalen männlichen abgeleitet anstatt neu geschrieben wurden. Wobei die dann manchmal viel oberflächlicher geworden sind.

Nimmt man das alles so hin, entsteht schon eine seltsame Faszination dieses „Was-wäre-wenn“-Szenarios auf dem Niveau des Hollywooddramas eines großen Studios. Ohne Frage war das Mitte der 80er bahnbrechend. Selbst seitdem gibt es nur wenig Vergleichbares. Eine wissenschaftliche Studie ist es nicht. Nichteinmal ein Spiel im klassischen Sinne. Aber es ist ein unterhaltsames Spielzeug in einem viel zu wenig beackerten Bereich. Man kann viel daran kritisieren, über den ganzen Ansatz, über die Umsetzung. Ich bin froh, dass es Alter Ego gibt.

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